30 Jahre Recherche und Dokumentation des staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus

Die Antirassistische Initiative e.V. gibt seit 30 Jahren die umfassende Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" heraus. Diese ist ein Spiegelbild menschenverachtender Lebensbedingungen, denen Asylbewerber_innen und Menschen ohne Papiere in Deutschland ausgesetzt sind.

Anhand der mittlerweile über 18.500 Einzelgeschehnisse werden die verschiedenen Formen staatlicher als auch gesellschaftlicher Gewalt deutlich, denen diese Menschen ausgesetzt sind und die viele nicht unbeschadet überstehen.

Die Dokumentation belegt anhand von vielen Einzelbeispielen und in ihrer Gesamtheit den strukturellen und institutionellen Rassismus. Sie ist der Versuch, die schlimmsten Auswirkungen des rassistischen Systems dieses Staates auf Asylbewerber_innen und Menschen ohne Papiere deutlich zu machen.

Die Dokumentation untermauert in ihrer Gesamtheit unsere Forderungen:

Offene Grenzen!
Bleiberecht für alle!
Gleiche Rechte für alle!

Die Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" ist eine bis auf das Jahr 1993 zurückgehende chronologische Sammlung von Einzelschicksalen, in denen Flüchtlinge körperlich zu Schaden gekommen sind. Die Geschehnisse passierten in der Regel auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland. Es werden jedoch auch Einzelschicksale dokumentiert, in denen Menschen aus Deutschland abgeschoben wurden, dann (in einem anderen Land) misshandelt, gefoltert oder getötet wurden oder spurlos verschwunden sind. Die Dokumentation umfasst ebenso Schicksale von Menschen, die auf dem Weg nach Deutschland verletzt wurden oder gestorben sind.

Es werden Geschehnisse von Menschen dokumentiert, die vor einem Asylverfahren stehen, eines durchlaufen oder deren Asylanträge abgelehnt wurden. Es geht auch um Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere für die Bundesrepublik Deutschland bzw. gänzlich ohne Papiere.

Verletzungen und Todesfälle von Flüchtlingen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder dem Grundgesetz anerkannt sind, dokumentieren wir nicht.


Staatliche und gesellschaftliche Gewalt

Flüchtlinge sind durch staatliche Maßnahmen zu Schaden gekommen. Damit ist die Umsetzung der Asylgesetze gegen die Betroffenen gemeint:

  • eine angekündigte und durchgesetzte Abschiebung, bei der Menschen verletzt oder getötet werden oder sich aus Angst vor der Abschiebung selbst verletzen oder umbringen;

  • Todesfälle und Verletzungen infolge geschlossener Grenzen und Überwachung;

  • Menschenjagden und Verletzungen durch Polizei, Bundesgrenzschutz oder Bundespolizei;

  • Abschiebegefängnisse, die Menschen dazu bringen, sich selbst zu verletzen oder zu töten;

  • Todesfälle und Verletzungen nach Abschiebungen.

Des Weiteren werden Berichte über Fluchtversuche dokumentiert, die deutlich machen, welche lebensbedrohlichen Bedingungen Flücht­linge auf sich nehmen müssen, um nach Deutschland zu gelangen.

Schließlich umfasst die Dokumentation rassistische Angriffe seitens der Bevölkerung gegen Flüchtlinge auf öffentlichem Gebiet (Straßenangriffe), Anschläge und Attacken gegen bewohnte Flüchtlingsunterkünfte/Wohnungen sowie Brände und Unfälle in bewohnten Flüchtlingsunterkünften/Wohnungen.

Generell ist die Dunkelziffer zu den in der Dokumentation beschriebenen Ereignissen hoch. Das hängt zum Teil von der unterschiedlich intensiven Zuarbeit durch Organisationen und Einzelpersonen und auch von den Recherchemöglichkeiten ab. Oft ist es aber auch die Angst und das Misstrauen der Betroffenen selbst, die – aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen und aufgrund ihres unsicheren Aufenthaltsstatus' – keine weiteren Schwierigkeiten haben möchten. Viele Textblöcke sind aus diesem Grund anonymisiert.

Die auffällige Differenz der Zahlen bei rassistischen Angriffen zwischen Ost- und West-Bundesländern erklärt sich auch daraus, dass es seit längerer Zeit in den ostdeutschen Bundesländern staatlich finanzierte Bera­tungsstellen für Opfer rassistischer Gewalt gibt, die auch rassistische Gewalt dokumentieren. Derartige Hilfsangebote und Dokumentationsstellen existieren in den westlichen Bundesländern mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen nicht. Aus diesem Grund ist die Zahl der Angriffe in den westlichen Bundesländern mit Sicherheit deutlich höher.

Da sich die Angaben zu den toten und verletzten Flüchtlingen an den deutschen Grenzen – entsprechend der Informations­quellen (Bundesgrenzschutz und Bundespolizei u.a.) – nur auf die deutsche Seite beziehen, ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl sehr viel höher ist. Die Zahlen, die die Landesinnen­ministerien nennen, beziehen sich aus­schließlich auf die von der Landespolizei registrierten Fälle.

Es gibt in der Dokumentation einige Geschehnisse, bei denen Flüchtlinge zu Schaden kamen, die gezielt "auf dem Weg nach Deutschland" waren. Aber angesichts Tausender toter Menschen an den Außengrenzen Europas ist die tatsächliche Anzahl – bezogen auf Deutschland – nicht festzustellen.

Auch die hier dokumentierten "Fälle" von nach der Abschiebung verletzten, verschwundenen oder getöteten Flüchtlinge sind nur die Spitze des Eisberges. Nur wenige Nichtregierungs­organisationen (Flüchtlingsrat Niedersachsen für die Türkei, Aktion Abschiebestop für afrikanische Länder, amnesty international) haben zeitweise zu diesem Thema gearbeitet und Einzelschicksale verfolgt und dokumentiert. Die Recherche in den Herkunftsländern ist äußerst schwie­rig, weil die Flüchtlinge aufgrund ihrer politischen Verfolgung untertauchen oder weiter fliehen müssen oder weil sie in den Gefängnissen "verschwinden". Berichte über Folter und Misshandlungen können demzufolge auch nur von Menschen gegeben werden, die aus den Händen der Verfolger entkommen sind und die noch die Kraft, das Geld und die Möglichkeit hatten, sich in Deutschland oder bei ihren Angehörigen zu melden.

Nicht mit aufgeführt sind die Menschen, die durch Arbeitsverbot, durch Beendigung der Aufenthaltsgenehmigung oder durch Fluchthilfeschulden in illegalisierte Arbeit gedrängt wurden und dabei zu Tode kamen oder verletzt wurden: Von 1993 bis1998 wurden beispielsweise mindestens 50 Menschen bei Verteilungskämpfen im Zigarettenhandel nach Aussage des Tagesspiegels vom 24.4.99 getötet.

Zählung

Aufgrund der Individualität eines jeden Menschen ist es oft schwierig, die hier dokumentierten Einzelschicksale in eine Statistik einzupassen. Finden z.B. Selbstverletzungen in Abschiebehaft aus Protest, aus Verzweiflung oder aus Selbsttötungsabsicht statt? Passiert ein Fenstersprung aufgrund einer Panik in Selbsttötungsabsicht oder auf der Flucht, um der Festnahme zu entgehen, wenn Polizeibeamte in die Wohnung eindringen?

Im September 1994 bekam die Antirassistische Initiative e.V. (ARI) einen Anruf von einem Herrn Kanthasamy aus Krefeld, der seinen Sohn Sutharsan vermisste. Sutharsan Kanthasamy hatte sich im August aus Polen bei seinem Vater telefonisch gemeldet – seitdem aber nicht mehr. Mitarbeiter_innen der ARI begannen, nach Sutharsan Kanthasamy zu suchen. Sie fuhren an die Grenze und recherchierten auf deutscher und auf polnischer Seite. Zunächst ohne Erfolg. Dann konnte mithilfe eines polnischen Journalisten Licht in die Sache gebracht werden, und es wurde eine ungeheuerliche Tragödie sichtbar.

Am 26. August 1994 wurden 22 tamilische Flüchtlinge von ihrem Fluchthelfer aufgefordert, sich an den Händen zu fassen, Ketten zu bilden und ins Wasser der Neiße zu gehen. Doch das Wasser war tief, die Strömung des Flusses stark, und die meisten Flüchtlinge konnten nicht schwimmen, sie wurden weggerissen. Ihre Hilferufe wurden von polnischen Grenzpolizisten gehört, die mit Leuchtmunition die Nacht erhellten und die Szene beobachteten, ohne jedoch den Menschen zu Hilfe zu kommen. Mindestens neun Personen ertranken. 

Vom 1. bis 6. September wurden sechs Tote in der Nähe des deutsch-polnischen Grenzübergangs Forst am Wasserkraftwerk Zasieki aus der Neiße geborgen. Einer von ihnen war Sutharsan Kanthasamy. Er war in Sri Lanka fünfmal verhaftet gewesen, war mehrmals gefoltert worden, und dennoch hatte die deutsche Botschaft in Colombo ihm kein Visum zur Einreise nach Deutschland erteilt. Am 6. Oktober, 19. und 28. November wurden weitere drei tote Tamilen aus der Neiße geborgen.

Zwei Berliner Journalistinnen begleiteten die Recherche, und es entstand der Dokumentarfilm "Tod in der Neiße", der in der ARD als ARD-Exclusiv Beitrag im Oktober 1994 gezeigt wurde. Mit der Recherche zu den Toten vom 26. August 1994 konnte erreicht werden, dass der Bundesgrenzschutz erstmals zugeben musste, dass Menschen beim nicht erlaubten Grenzübergang zu Tode gekommen sind. Todesfälle an den Grenzen waren vorher nur gerüchteweise bekannt geworden.

Mitarbeiter_innen der ARI beschlossen daraufhin, am Thema zu bleiben, zumal klar war, dass es sich bei der Anzahl der Toten lediglich um die Spitze eines Eisbergs handeln konnte. Zusammen mit der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) wurde die Arbeitsgruppe "Dokumentationsstelle Menschenrechtsverletzungen an der Grenze" gebildet, die einige Jahre lang die polnische und tschechische Grenze und vor allem die grenzpolitischen Arbeitsweisen kritisch beobachtete und dokumentierte (siehe auch: http://www.ffm-berlin.de/publchron.html).

Aufgrund der Recherchen der ARI hat das Netzwerk UNITED for Intercultural Action (Amsterdam) angefangen, europaweit Todesfälle an den Grenzen zu dokumentieren. Die Zahlen von UNITED haben inzwischen enorme Dimensionen angenommen und belegen die verheerende Wirkung auf Menschen, die versuchen, die abgeschotteten Grenzen zu überwinden: "List of 40 555 documented deaths of refugees and migrants due to the restrictive policies of Fortress Europe" – Zeitraum vom 1.1.1993 bis 11.06.2020: http://unitedagainstrefugeedeaths.eu/wp-content/uploads/2014/06/ListofDeathsActual.pdf


Erweiterung des Themas und erste Auflage

Neben den zahlreichen Toten an der Ostgrenze erreichten die ARI über deren Antirassistisches Telefon zudem viele Informationen aus Abschiebegefängnissen (Misshandlungen, Selbsttötungsversuche, Selbstverletzungen u.a.) und Schikanen und Misshandlungen seitens der Polizei und Behörden. Daher wurde das Thema erweitert und nicht nur die Verletzten und Toten an den Außengrenzen, sondern auch die Opfer der Innengrenzen dokumentiert.

Innengrenzen, die zwischen Asylbewerber_innen, Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis oder ohne Papiere und dem Rest der Gesellschaft existieren. Innengrenzen, die in den Ausländer- und Asylgesetzen festgeschrieben sind, und deren Ziel es ist, dass Flüchtlinge und Menschen ohne Papiere sie nicht überwinden sollen.

Die erste Auflage der Dokumentation zum Thema erschien dann im Jahre 1995. Heute ist die Dokumentation bundesweit die umfassendste Zusammenstellung von Todesfällen, Verletzungen bei Grenzüberquerungen, Suiziden sowie Selbsttötungsversuchen von Flüchtlingen, Todesfällen und Verletzungen während und nach Abschiebungen.

Sie umfasst in der 29. Auflage heute einen Zeitraum von 29 Jahren (1993 bis 2021) und über 16.000 Einzelgeschehnisse auf mehr als 1300 Seiten.
Sie ist für viele, die im Bereich Flüchtlingspolitik Öffentlichkeitsarbeit machen, zu einer wichtigen Arbeits- und Argumentationsgrundlage geworden.



Die Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" entsteht seit über zwei Jahrzehnten durch die unbezahlte Arbeit aller Mitwirkenden.

Wir danken den Gruppen und Personen, die uns Zeitungsartikel, Berichte, eigene Dokumentationen etc. zur Verfügung stellen danken wir sehr. Wir bitten alle, uns bei den Recherchen weiterhin zu unterstützen und uns auch in Zukunft Informationen zukommen zu lassen.


Wir danken den Menschen vom Dokumentations- und Informationszentrum für Rassismusforschung e.V. in Marburg für die Nutzung ihres Archivs in den Jahren 1998 bis 2002.

Wir danken für die täglichen Zusendungen von Presseartikeln, Pressemitteilungen und sonstigen relevanten Informationen im Zeitraum von 2003 bis 2010 vom informationsdienst für antifaschismus und antirassismus (idafar).


Für die Kostenbeteiligung an Recherche und Druck über viele Jahre danken wir besonders folgenden Organisationen:

Pro Asyl e.V.
Stiftung Netzwerk Selbsthilfe e.V.
Verein der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Stiftung Werkschule Berlin

 

 

Für einmalige finanzielle Unterstützung danken wir:

Amadeu Antonio Stiftung

Amadeu Antonio Stiftung
Rosa Luxemburg Stiftung
Der Stiftung :do danken wir für den finanziellen Zuschuss für die Einrichtung der aktuellen Webseite sowie der Datenbank.

Für die Realisierung und Einrichtung der aktuellen Webseite sowie Datenbank danken wir UNI:CODE IT SOLUTIONS.

Für das Layout der Startseite danken wir TEKTEK – Gestaltung & Produktion.

Aktuelle Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen (1993-2022)" zum Ansehen und Downloaden

Einzelne Jahrgänge der Dokumentation zum Ansehen und Downloaden:

  • 1993
  • 1994
  • 1995
  • 1996
  • 1997
  • 1998
  • 1999
  • 2000
  • 2001
  • 2002
  • 2003
  • 2004
  • 2005
  • 2006
  • 2007
  • 2008
  • 2009
  • 2010
  • 2011
  • 2012
  • 2013
  • 2014
  • 2015
  • 2016
  • 2017
  • 2018
  • 2019
  • 2020
  • 2021
  • Auszug aus der Dokumentation: Todesfälle und Verletzungen durch Angehörige der Polizei und einige fragwürdige Suizide (01.12.2022)
  • Verzeichnis der Abkürzungen (Stand 2023 zur 30. Auflage, 1993-2022)
  • 2022
  • Auszug aus der Dokumentation: Todesfälle und Verletzungen durch Angehörige der Polizei und einige fragwürdige Suizide (19.10.2023)
Hier könnt Ihr in der Webdokumentation recherchieren.
OFFENE GRENZEN!
BLEIBERECHT FÜR ALLE!
GLEICHE RECHTE FÜR ALLE!